Ein Neu-Denken der Medizin, eine neue Form der Interdisziplinarität

Interview
10.03.2011
Update: 11.03.2011
„Gendermedizin? Ja, sie wird schon akzeptiert, aber manch einer hat noch Angst, da werde ihm etwas weggenommen ...” Dr. Alexandra Kautzky-Willer, seit Anfang des Jahres 2010 erste österreichische Professorin und Lehrstuhlinhaberin für Gendermedizin, hat da ihre Erfahrungen, was das Feedback der (zumeist männlichen) Kollegen in den einzelnen Fachdisziplinen betrifft. Wir trafen die Wissenschaftlerin an der Medizinischen Universität Wien.

Was sind die Argumente, die immer noch gegen die Gendermedizin ins Feld geführt werden?
Prof. Kautzky-Willer: Fachliche Einwände gibt es eigentlich immer seltener, denn jede Ärztin, jeder Arzt weiß, dass es ernstzunehmende Unterschiede in Diagnostik und
Therapie von Männern und Frauen gibt. Es liegen zunehmend Veröffentlichungen vor, die das mit Fakten belegen, wenngleich dies sicher noch nicht ausreicht. Was ich feststelle, sind die mehr unterschwelligen Ängste, Fachgebiete könnten quasi aufgemischt, neu geordnet werden. Diese Ängste haben etwas mit den bisher herrschenden Strukturen im Medizinbetrieb zu tun, das Denken in fachlichen Schubladen, die der ganzheitlichen Medizin, wie sie auch die Gendermedizin verkörpert, entgegenstehen. Es ist nicht zuletzt eine Frage des Neu-Denkens von Medizin, auch einer neuen Form der Interdisziplinarität.

Wie definieren Sie Gendermedizin?
Prof. Kautzky-Willer: Das Spannende an ihr ist der ganzheitliche Ansatz, und dies nicht nur im biologischen Sinne, sondern auch das Einbeziehen von psychosozialen Faktoren. Männer und Frauen unterscheiden sich biologisch, ganz klar, und das kann einen Unterschied auch im medizinischen Sinne, also in Diagnostik und Therapie von Erkrankungen, bedeuten, muss es aber nicht zwangsläufig. Werden die psychosozialen Faktoren einbezogen, die Lebensweise, kulturelle Gesichtspunkte und das Umfeld von Männern und Frauen und bei unterschiedlichen Altersgruppen, ergeben sich für die Gesundheit wiederum neue Aspekte der Unterschiedlichkeit. Diese Gesamtbetrachtung macht Gendermedizin aus, ist ein Faktor individualisierter Medizin.

Sie sind Endokrinologin, befassen sich in der Klinik mit dem Diabetes mellitus. Wie verhält es sich unter gendermedizinischen Gesichtspunkten mit dieser Erkrankung?

Prof. Kautzky-Willer: Ganz abgesehen davon dass ich über meine Arbeit zum Schwangerschaftsdiabetes überhaupt erst zur Gendermedizin gekommen bin: Bei dieser Krankheit gibt es sehr deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Nehmen wir die herkömmliche Diagnostik, die in Bezug auf den Diabetes u. a. durch die Bestimmung des Nüchternblutzuckers geschieht. Es hat sich gezeigt, dass diese Werte bei Frauen weniger aussagefähig sind. Bei ihnen ist es besser, kurz nach der Nahrungsaufnahme eine entsprechende Blutzuckerbestimmung vorzunehmen, wenn man eine relevante Aussage haben möchte, auf der eine wirksame Therapie aufbauen kann. Und das ist nur eine Erkenntnis. Es laufen Studien zu Diabetes und Knochenstoffwechsel, wir forschen gemeinsam mit KinderärztInnen, GynäkologInnen, OnkologInnen, NephrologInnen und AugenärztInnen. Ein weites Feld also.

Mit dem Blick aus Deutschland hat man den Eindruck, dass Österreich auch mit Ihrer Professur und einer Reihe von wissenschaftlichen Veranstaltungen auf dem Gebiet der Gendermedizin schon sehr weit ist...
Prof. Kautzky-Willer: Wenn man sich wie ich mitten in diesem Prozess befindet, geht einem das viel zu langsam! Und ich glaube, andere europäische Länder machen ebenfalls Fortschritte, wir arbeiten ja auch gut zusammen. Ich habe z. B. bei dem vom Institut für Gendermedizin der Charité initiierten Projekt einer Datenbank zu allen bekannten Veröffentlichungen in Bezug auf die Gendermedizin mitgewirkt und das Thema Diabetes bearbeitet. Der Erfahrungsaustausch zwischen den beteiligten WissenschaftlerInnen ist sehr intensiv, das bringt uns alle voran – Schritt für Schritt.

Das Gespräch führte Annegret Hofmann,
anna fischer project
Mehr zum Thema